Day 8 on Lesbos – Bericht von Nicola Baloch (3.1.2016)
Anstatt über unsere Arbeit zu berichten, was sind schon unzählige frierend weil nasse Menschen, die warm eingekleidet werden, berichte ich heute von dem Horror, der sich hier täglich abspielt. Auch jetzt bei eisigen Temperaturen, starkem Wind und entsprechend hohen Wellen wagen noch rund 1500-2000 Menschen pro Tag die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland. Ein Stretch von rund 6-10 km je nach Route. Bevor es losgeht sind die Menschen oft tagelang in den Wäldern des Küstengebirges versteckt, um nicht von der Polizei verhaftet zu werden. Selbstredend ohne Versorgung oder Unterschlupf. Wenn die Schlepper es für richtig empfinden. Die Boote starten in der Nacht meist so um Mitternacht und brauchen 2-3 Stunden, steuern müssen die Menschen selber, egal ob sie es können oder nicht. Viele haben uns erzählt, dass die Schlepper ihre Taschen und Rucksäcke ins Wasser werfen, um Platz für noch mehr Menschen zu schaffen und die Boote so voll wie möglich zu stopfen. Die See ist rau und kalt und wenn wer über Bord geht, hat er Pech. Ab der Mitte erst dürfen griechische Patrouillen helfen und die Boote ans Ufer lotsen. Beim Aussteigen müssen die Menschen knietief oder hüfttief ins Wasser steigen und danach sind sie nass und frieren. Wenn sie ankommen, ist es immer noch dunkel und im Tumult und dem Chaos des Ausladens verschwinden manchmal Kinder. Sie werden von der skrupellosen Mafia gestohlen und tauchen nicht mehr auf.
Wenn sie auftauchen dann als Leichen.
Viele Frauen sind schwanger und es kommt immer wieder zu Fehlgeburten, da die Flucht so anstrengend ist und das Wetter so kalt. Auch werden Babies nach wie vor auf der Flucht geboren, ihre Überlebenschancen sinken mit jedem Grad, das die Temp fällt. Vorgestern ist im Camp ein Kind gestorben. Viele schaffen die Überfahrt nicht. Immer wieder kentern Boote und Menschen ertrinken. Passiert dies auf türkischer Seite so hilft niemand, auf griechischer Seite können Sie Glück haben und gerettet werden. Um auf diese untragbare Katastrophe aufmerksam zu machen, haben Hilfsorganisationen gemeinsam mit Volunteers ein SOS aus den Schwimmwesten auf dem Berg an der Küste aufgelegt. Bisher hat niemand reagiert.
Gestern hatte ich einen jungen Mann vor mir der aus dem Wasser geborgen wurde. Er war waschelnass und stellte sich doch geduldig in der Schlange vor dem Kleiderzelt an. Ich bat ihn herein und suchte in Windeseile ein warmes Outfit bestehend aus vier Schichten für ihn zusammen. In der hintersten Ecke hielt ich ihm eine Decke vor und er zog sich dahinter um. Bei den Pullovern half ich ihm. Er war Syrer. Wir sprachen nicht miteinander. Er konnte nicht, weil ihm so kalt war und es ihn riss, ich war einfach sprachlos. Eine Koordinatorin aus dem Zelt kam und begann zu keifen, dass ich gegen die policy verstieße. Im Zelt seien unsere Wertsachen, niemand dürfe herein. Es sei eine kulturelle Schande, dass ich als Frau ihm helfe…
Auf dieses Gespräch ließ ich mich nicht ein. Stattdessen nahm ich eine Pause und ging mit dem jungen Herrn hinaus. Aber draußen vor dem Zelt dann besorgte ich ihm noch eine Tasse heißen Tee, eine Orange, eine Decke und eine Zigarette. Er bedankte sich mit den Worten. „Thank you, Mama“. Soviel zur kulturellen Schande.