Angekommen – Portrait 14

von Ahmad, 18.1.2021

Die meisten Österreicher haben schon mindestens eine Fluchtgeschichte gehört mittlerweile klingen die alle gleich, auch wenn sie in Wirklichkeit ganz unterschiedlich sind. Deshalb habe ich gedacht, dass ich diese Gelegenheit, meine Geschichte zu erzählen, ein bisschen anders angehe. Hierzu habe ich einen Text gefunden, den ich vor circa zwei Jahren für den Deutschkurs geschrieben habe. In der Zwischenzeit ist natürlich viel passiert, unter andren dass ich nicht mehr im Deutschkurs bin. Ich arbeite als Abteilungsleiter in einem österreichischen Supermarkt. Vor einem Jahr habe ich einen Literaturpreis gewonnen und vor kurzem die LAP abgelegt. 

Lieber Vater, 

Grüße an dich und meine Mutter und den Staub auf dem Grab meines Bruders.

Grüße an unsere Nachbarn und unsere Straßen.

An den Jasminbaum vor unserem Haus.

Und unsere Träume

An unser Damaskus 

Grüße an deine Sehnsucht nach mir und meine nach dir 

Papa, 

Hier ist alles anders… 

In diesem Land, das so viele Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt ist, 

ist der Winter sehr kalt

Der Sommer ist voller Regen

Die Berge sind grün und fröhlich

Die Straßen sind immer sauber

Das war die erste seltsame Sache, die ich hier gesehen habe.

Auf der Straße begegnet man oft einem Blinden, der sicher vorangeht, ohne Verhinderung, 

Denn es gibt kein Schrott oder Müll an den Seiten der Straße

An der roten Ampel bleibt er stehen wie die Anderen. 

An der Bushaltestelle ist es normal, jemanden in seinem Rollstuhl zu sehen, der auf den Bus wartet, und vielleicht zur Arbeit fährt. 

Der Bus kommt pünktlich. 

Ganz einfach steigt der Fahrer aus, um den Mann zu helfen und öffnet die Tür für ihn. Wenn er an seiner Station aussteigen will, wiederholt der Fahrer alles nochmal. 

Ohne Streit steigen die Passagiere aus. Und ohne die Anderen zu stoßen steigen sie ein.

Die Menschen grüßen auf der Straße nicht. 

Vielleicht wenn ich sie grüßen würde, würde ich sie erschrecken–oder wenigstens überraschen. 

Auf diesen Straßen sieht man einen Siebzigjährigen, der sein Fahrrad fährt. 

Hinter ihm steht ein zwanzigjähriges Mädchen und putzt den Kot ihres Hundes vom Gehsteig weglassen. 

Meine Freunde fieseln davor und finden es komisch, und dabei schauen sie nicht auf die Sauberkeit der Straße. 

Hier an diesem Ort hat man keine Angst vor der Polizei. 

Würdest du glauben, dass sie vor den Zebrastreifen anhalten, wenn jemand die Straße überqueren will? 

Das erste Mal als ich das erlebt habe, ich ging drei Meter zurück, damit sie ja wissen, sie haben den Vorrang, aber sie hielten, und einer zeigte mit seiner Hand aus dem Fenster, dass ich die Straße überqueren kann. Hat er vielleicht von meinem Rucksack, der voller Bücher war, gewusst, dass ich nicht deutsch sprechen kann? Jedenfalls überquerte ich die Straße wie im Traum. Am nächsten Tag bat ich sogar die Lehrerin, das Wort „Polizei“ an die Tafel zu schreiben, um sicherzusein, dass ich ein Polizeiauto gesehen habe. 

Ich komme müde von den vielen neuen Wörtern in meinem Kopf. 

Ich versuche, zehn Wörter jeden Tag zu lernen. Dann gehe ich schlafen und in der Früh bemerke ich, dass ich alle Wörter außer den ersten Buchstaben vergessen habe. Ich habe versucht, eins von ihnen auszusprechen: Slovis…Salioves… Servicio…? Ich konnte mich nicht an das Wort „Hallo“ erinnern, aber ich versuchte es weiter.

So beendete ich meinen ersten Kurs und fing an, „Servus“ richtig auszusprechen. 

Papa, diese Sprache ist schön, aber auch schwierig. 

Kannst du Fünfhundertfünfundfünfzig schnell sagen?

Kannst du raten was es bedeutet?

Vielleicht denkst du, dass das ein nützlicher Satz ist. 

Aber nein, das ist nur die Nummer 555.

Jetzt habe ich dieses Problem überwunden und angefangen, in dieser Sprache zu schreiben. 

Ich schreibe alles in meinen Kopf. 

Die Lehrerin im Sprachkurs hat mir gesagt, dass mein Schreiben langweilig und kompliziert ist.

Ich erinnere mich, als du mir gesagt hast, dass ich versagt habe und keinen Fachtext schreiben kann. Ich erinnere mich, als du mir deine schönen Zeilen geschrieben hast… 

Meine Schrift ist immer noch Katastrophe. Hier, in diesem Land hat sich daran nichts geändert. 

Stell dir vor, Vater, ich habe hier nicht gesehen, dass Katzen in den Straßen für Essen betteln. Auch keine kleinen Katzen, die flüchten, wenn sie jemanden sehen. Und keine obdachlosen Katzen wie diese, die zu uns immer gekommen waren und du ihnen Joghurt und Milch gegeben hattest.

Hier, mein Vater, gibt es für Katzen Häuser und jeder liebt sie wie du. 

Hab keine Angst Papa. 

Es ist wirklich ein Land mit einer seltsamen Religion, Traditionen und Sprache. 

Aber sie sind keine Monster, sondern im Gegenteil: Menschen, wie alle anderen. 

Sie sind glücklich und lächeln uns immer an. 

Sie geben uns jeden Monat Geld, auch wenn wir nicht arbeiten. 

Sie lehren uns ihre Sprache mit Vergnügen. 

Es tut mir leid zu sagen, dass ich hier ein Zuhause gefunden habe. 

Zwischen diesen Gesichtern habe ich Hoffnung gefunden. 

Vielleicht bleibe ich. 

Ich werde nicht zurückgehen, aber ich verspreche, dir immer zu schreiben und dir alles Schöne zu erzählen. 

Hier in Österreich.

Lg

Dein Sohn der Einwanderer Ahmad

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